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VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.08.2020 Az. 12 S 629/19

Ein Einbürgerungsbewerber, der infolge einer fundamentalistischen Kultur- und Wertevorstellung das Händeschütteln mit jeglicher Frau deshalb ablehnt, weil sie ein anderes Geschlecht hat und damit per se als eine dem Mann drohende Gefahr sexueller Versuchung bzw. unmoralischen Handelns gilt, gewährleistet nicht seine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse. Die Tatsache, dass der Einbürgerungsbewerber - unter Aufrechterhaltung dieser Einstellung - auch Männern nicht die Hand gibt, führt zu keiner anderen Betrachtung.
Einbürgerung; Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse; Salafismus; Handschlag
StAG § 10 , StAG § 9 , StAG § 8
VG Stuttgart 07.01.2019 11 K 2731/18
In der Verwaltungsrechtssache
- Kläger -
- Berufungskläger -
prozessbevollmächtigt:
gegen
Land Baden-Württemberg,
vertreten durch das Landratsamt Ludwigsburg,
Hindenburgstraße 40, 71638 Ludwigsburg, Az:
- Beklagter -
- Berufungsbeklagter -
wegen Einbürgerung
hat der 12. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 20. August 2020
für Recht erkannt:

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 7. Januar 2019 - 11 K 2731/18 - wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger, ein im Jahre 1983 geborener libanesischer Staatsangehöriger, begehrt seine Einbürgerung in den deutschen Staatsverband.
Er reiste im Jahre 2002 mit einem Visum zum Zwecke eines Deutschkurses und anschließenden Studiums in das Bundesgebiet ein. Das im Sommersemester 2004 an der Universität xxxxxxxx begonnene Studium der Humanmedizin schloss er dort im Oktober 2011 erfolgreich ab. Er ist mittlerweile Facharzt für Radiologie und an einer Klinik als Oberarzt tätig. Im Dezember 2012 heiratete er standesamtlich eine im Bundesgebiet geborene deutsche Staatsangehörige muslimischen Glaubens, deren Eltern aus Syrien stammen. Seine Ehefrau studierte ab dem Sommersemester 2009 Zahnmedizin und wechselte im Jahre 2014 in den Studiengang Humanmedizin. In diesem Studiengang befindet sie sich im Physikum.
Der Kläger hält sich seit seiner Einreise bis heute ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Der ihm zu Studienzwecken erteilte Aufenthaltstitel wurde in der Folgezeit fortlaufend verlängert. Hieran schloss sich aufgrund seiner Berufstätigkeit als Arzt eine Aufenthaltserlaubnis nach § 18 Abs. 4 Satz 1 AufenthG a.F. an. Seit dem 17.04.2014 ist er im Besitz einer Niederlassungserlaubnis nach § 18 b AufenthG a.F.
Bereits am 11.10.2012 beantragte der Kläger beim Landratsamt Lörrach seine Einbürgerung in den deutschen Staatsverband. Er unterschrieb die Bekenntnis- und Loyalitätserklärung sowie das Merkblatt zur Verfassungstreue und Absage an alle Formen des Extremismus. Den Einbürgerungstest bestand der Kläger mit der maximal möglichen Punktzahl.
Auf die Anfrage des Landratsamts Lörrach teilte das Ministerium für Integration Baden-Württemberg mit Schreiben vom 21.03.2013 mit, es bestünde Anlass zu Zweifeln, ob der Kläger die Voraussetzungen für eine Einbürgerung in den deutschen Staatsverband erfülle und sein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung ernsthaft sei. Der Kläger sei als regelmäßiger Besucher der Freitagsgebete der Islamischen Gemeinschaft xxxxxxxx e.V. (IGW) in der Zeit von Februar 2009 bis März 2012 bekannt. Das Landesamt für Verfassungsschutz habe Folgendes mitgeteilt:
Die Islamische Gemeinschaft xxxxxxxx e.V. (IGW) habe durch gelegentliche Auftritte des Funktionärs der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD), Ahmed El-Khalifa, sowie Imame des Rats der Imame und Gelehrten Deutschland e.V. (RIG) Verbindungen zur IGD gehabt. Der RIG sei auf Initiative der IGD gegründet worden und solle dafür sorgen, dass Fatwas der Imame in Deutschland mit dem "European Council for Fatwa and Research" (ECFR) in Dublin abgestimmt würden, so dass einheitliche Fatwas in Deutschland erlassen würden. Der ECFR sei im Jahre 1997 auf Initiative der FIOE <Föderation Islamischer Organisationen in Europa>, dessen Gründungsmitglied die IGD sei, gegründet worden. Die IGD gelte als Zentrale der sunnitisch-extremistischen Muslimbruderschaft (MB) in Deutschland. Das von der MB angestrebte Herrschaftssystem weise deutliche Züge eines diktatorischen bzw. totalitären Herrschaftssystems auf, das die Selbstbestimmung des Volkes sowie die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit der Menschen nicht garantiere. Die Grundideologie der MB sei auf die Errichtung islamistischer Gottesstaaten ausgerichtet. Dieses Fernziel eine alle Strömungen innerhalb der Muslimbruderschaft. Ein Großteil der ideologischen Grundsätze der MB sei somit unvereinbar mit den im Grundgesetz verankerten Prinzipien der Demokratie, des Rechtsstaats und einer auf Menschwürde basierenden politischen Ordnung. Die IGD versuche, durch politisches Engagement in Deutschland die Verwirklichung ihrer Ideologie zu erreichen. Ihr Ziel sei nicht die Integration, sondern die Veränderung der Gesellschaft der eigenen Ideologie entsprechend. Zur Erreichung dieses Ziels beteiligten sich die Vertreter der IGD bereits jetzt am kommunalen politischen Leben und versuchten u.a., auch auf die Bildungspolitik Einfluss zu nehmen. Zudem versuche die IGD verstärkt, über das Thema Bildung die Gesellschaft durch Lehre und Erziehung zu reformieren. Ergänzend zu diesen Ausführungen werde auf die Verfassungsschutzberichte des Landes Baden-Württemberg der letzten Jahre, insbesondere den des Jahres 2011 (S. 53 ff. und 60 ff.), verwiesen.
Das Landratsamt Lörrach führte am 31.07.2013 eine Sicherheitsbefragung mit dem Kläger durch und teilte das Ergebnis dem Ministerium für Integration mit. Zu einer Entscheidung über den Einbürgerungsantrag kam es in der Folgezeit nicht, da der Kläger eine Assistenzarztstelle in einem anderen Bundesland antrat. Nachdem sich der Kläger Ende des Jahres 2014 im Zuständigkeitsbereich des Landratsamts Ludwigsburg angemeldet hatte, fand auf Anweisung des Ministeriums für Integration am 07.05.2015 eine erneute Sicherheitsbefragung statt. Das Ministerium stimmte mit Erlass vom 28.10.2015 der Einbürgerung zu und führte aus, es lägen keine ausreichenden Anhaltspunkte vor, um einen Ausschlussgrund im Sinne des § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG annehmen zu können. Der Kläger habe bei den Gesprächen mit der Einbürgerungsbehörde Zweifel an der Ernsthaftigkeit seines Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausräumen können. Außerdem habe er die Mitgliedschaft in der Islamischen Gemeinschaft xxxxxxxx e.V. gekündigt und sich von dieser Vereinigung distanziert. Es seien auch keine entsprechenden Erkenntnisse mehr angefallen.
Am 09.12.2015 sprach der gerade von einer Reise in die Vereinigten Staaten zurückgekehrte Kläger vereinbarungsgemäß zur Aushändigung der Einbürgerungsurkunde bei der zuständigen Sachbearbeiterin des Landesratsamts vor. Als diese ihm die Hand zur Begrüßung geben wollte, verweigerte er dies mit der Begründung, er habe seiner Ehefrau versprochen, keiner anderen Frau die Hand zu geben. Seine Ehefrau wolle dies nicht. Zur Aushändigung der Einbürgerungsurkunde kam es nicht.
Ausweislich einer E-Mail des Landratsamts Lörrach an das Ministerium für Integration vom 11.12.2015 habe am 10.12.2015 die Ehefrau des Klägers dem Landratsamt gegenüber die Angaben ihres Mannes bestätigt und erklärt, sie wolle nicht, dass ihr Mann anderen Frauen die Hand gebe, in der Bibel gebe es ja auch ein Gebot, das dies verbiete. Die Ehefrau des Klägers wandte sich zudem mit E-Mail vom 10.12.2015 an das Ministerium und führte aus, bei dem Termin am 09.12.2015 sei es zu einem schweren Missverständnis gekommen. Als die Sachbearbeiterin ihren Ehemann habe beglückwünschen wollen, habe sie ihm die Hand entgegengestreckt. Er habe sich höflich entschuldigt und ihr erklären wollen, warum er ihren Handschlag leider nicht erwidern könne. Er habe versucht, der Sachbearbeiterin klar zu machen, dass er ihr aufgrund ihrer starken Eifersucht kürzlich ein Versprechen gegeben habe, keine fremden Frauen anzufassen, sei es auch nur zur Begrüßung. Bisher sei ihr Mann vier bis fünf Mal bei dieser Sachbearbeiterin gewesen und habe jedes Mal, ohne Ausnahme, ihren Handschlag erwidert. Sie selbst sei aber eine sehr eifersüchtige Frau und es missfalle ihr, wenn ihr Ehemann andere Frauen berühre. Sie habe ihn deshalb dringlichst darum gebeten, dies zu unterlassen. Er sei von ihrer Idee nicht begeistert, aber ihr zuliebe wolle er sich in Zukunft an ihre Abmachung halten, denn um eine harmonische Ehe zu führen, müsse man manchmal Kompromisse eingehen. Die Sachbearbeiterin habe die ganze Situation missinterpretiert. Sie habe ihrem Ehemann unterstellt, er habe die Gleichberechtigung nicht verstanden. Sein Handeln habe jedoch nichts mit Diskriminierung zu tun. Ihr Ehemann habe lediglich aus Respekt und Liebe zu ihr den Handschlag verweigert. Als Arzt habe ihr Ehemann selbstverständlich körperlichen Kontakt zu Patientinnen. Dies toleriere sie, da es medizinisch notwendig sei. Wäre ihr Ehemann ein unehrlicher Mensch, hätte er einfach die Hand gegeben und sie hätte hiervon nie etwas erfahren. Sie habe ein absolut schlechtes Gewissen, da ihrem Mann jetzt, wegen ihres Ticks, die Einbürgerung wegen einer solchen Lappalie verweigert bzw. weiterhin verschoben werde. Es sei eine persönliche und vielleicht auch krankhafte Einstellung von ihr. Aber sie habe ihre Eifersucht leider nur so unter Kontrolle.
Mit Bescheid vom 21.09.2016 lehnte das Landratsamt Ludwigsburg nach vorheriger Anhörung den Antrag auf Einbürgerung ab und begründete dies damit, der Kläger erfülle nicht die Voraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StAG. Es lägen tatsächliche Umstände vor, die Zweifel an seinem Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung rechtfertigten. Die Weigerung des Klägers, einer Frau die Hand zu geben, lasse darauf schließen, dass er die Grundwerte der deutschen Verfassung - Menschenwürde und Gleichheit von Mann und Frau - nicht mittrage. Gegen den am 23.09.2016 zugestellten Bescheid erhob der Kläger am 24.10.2016, einem Montag, Widerspruch, der auch in der Folgezeit nicht begründet wurde. Mit Widerspruchsbescheid vom 24.01.2018, zugestellt am 31.01.2018, wies das Regierungspräsidium Stuttgart den Widerspruch zurück.
Am 28.02.2018 hat der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht Stuttgart erhoben und geltend gemacht, mit seiner Weigerung, bei der Begrüßung einer Frau die Hand zu geben, habe er niemanden kränken oder respektlos behandeln wollen. Er sei Arzt in einem öffentlichen Krankenhaus und habe tagtäglich mit Patientinnen und Patienten aller Art zu tun. Dabei behandele er alle gleich. Er habe die Werte der Verfassung verinnerlicht. Der Vorfall vom 09.12.2015 sei ein Missverständnis gewesen, das seine Frau und er versucht hätten aufzuklären. Es sei ihre Freiheit, über ihren Körper frei zu entscheiden.
Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat insbesondere ausgeführt, Zwar habe der Kläger bei seinen Befragungen am 31.07.2013 und 07.05.2015 Zweifel an dem Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung vorerst ausräumen können, sein Verhalten bei seiner Vorsprache am 09.12.2015 und die dazu erfolgte Begründung hätten jedoch zu massiven Zweifeln am Wahrheitsgehalt seiner Antworten geführt. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger aus religiösen Gründen einer Frau keine Hand gebe und die Grundwerte der Verfassung - hier Menschenwürde und Gleichheit von Mann und Frau - nicht mittrage. Die Einbürgerung sei ein staatlicher Akt, der in würdigem und feierlichem Rahmen erfolgen solle. Ein Eingebürgerter werde selbst Teil der staatlichen Gemeinschaft, die er nach dem Grundsatz der Rechts- und Wahlgleichheit mitbilde und mittrage. Im Rahmen der Aushändigung der Urkunde werde dem Eingebürgerten zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Handschlag gratuliert. Jemandem mit Handschlag zu gratulieren, gehöre zur deutschen Kultur und entspreche der Höflichkeit und der Bedeutung der Handlung. Das Vorgehen des Klägers am 09.12.2015 zeige, dass er weibliche Repräsentanten des deutschen Staates nicht als gleichberechtigt ansehe und ihnen die erforderliche Achtung verweigere.
Das Verwaltungsgericht hat nach Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung mit Urteil vom 07.01.2019 - 11 K 2731/18 - dessen Klage, ihn in den deutschen Staatsverband einzubürgern, abgewiesen. Den Urteilsgründen zufolge hat das Gericht nicht die Überzeugung erlangen können, das vom Kläger abgegebene Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung sei tatsächlich inhaltlich zutreffend. Der Kläger sei in der mündlichen Verhandlung sorgsam darauf bedacht gewesen, seine innere Einstellung zu verbergen. Er habe häufig ausweichend auf Fragen des Gerichts reagiert. Dadurch habe er eindeutige Antworten, die einen Rückschluss auf sein Islamverständnis und auf seine Einstellung zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung erlaubt hätten, vermieden.
Gegen das am 28.01.2019 zugestellte Urteil hat der Kläger am 22.02.2019 die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt. Auf den unter dem 26.03.2019 gestellten Antrag ist dem Kläger antragsentsprechend die Frist zur Begründung der Berufung bis zum 29.04.2019 verlängert worden. Unter Stellung eines Antrags hat der Kläger mit Schriftsatz vom 26.04.2019 die Berufung begründet.
Der Kläger trägt im Wesentlichen vor: Das Verwaltungsgericht habe nach einem zweieinhalbstündigen Verhör, bei dem es um Fragen zur Scharia und einzelne Stellen aus dem Koran gegangen sei, angenommen, er erfülle nicht die Anspruchsvoraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StAG. Die Bewertungen seiner Antworten dahingehend, er bekenne sich nicht ohne Wenn und Aber zum Gleichheitsgebot, sei ebenso fehlerhaft wie die Auffassung des Verwaltungsgerichts, er distanziere sich nicht von der Scharia, insbesondere auch nicht von deren strafrechtlichen Vorgaben. Das Verwaltungsgericht habe die Anforderungen an das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung völlig überspannt. Er halte sich seit seiner Einreise an die hier geltende Gesetzesordnung und habe durch seine Lebensführung bewiesen, dass er sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekenne. Ausschlaggebendes Ereignis für die unterbliebene Einbürgerung sei seine Weigerung gewesen, der Dame bei der Einbürgerungsbehörde zur Begrüßung die Hand zu reichen. Das Händeschütteln sei in vielen westlichen Ländern gängiges nonverbales Begrüßungs- und Verabschiedungsritual. In anderen Kulturen sei es hingegen traditionell unüblich oder auf gleichgeschlechtliche Kontakte - insbesondere unter Männern - beschränkt. Aus diesem Verhalten resultiere nicht zwangsweise die Verachtung bzw. die Ungleichbehandlung der Frau. Seine deutsche Ehefrau sei extrem eifersüchtig. Er habe sein Leben lang Frauen gedankenlos die Hand gereicht. Seiner eifersüchtigen Ehefrau habe das nicht gepasst und sie habe von ihm verlangt, dies zukünftig zu unterlassen. Lediglich um keine Probleme zu Hause zu haben, reiche er keinen Frauen mehr die Hand. Er habe einen Anspruch auf Einbürgerung. Daran ändere auch die ab 09.08.2019 geltende Regelung in § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG nichts, wonach Voraussetzung für die Einbürgerung sei, dass die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse gewährleistet sei. Der Verfassungsschutz habe jahrelang ermittelt und sei schließlich zu dem Ergebnis gelangt, er könne eingebürgert werden. Als Arzt habe er täglich unmittelbaren körperlichen, medizinischen Kontakt mit Patienten jeden Geschlechts, jeden Alters, jeder Nationalität, jeder Religion, jeder Gesinnung und jeder Krankheit. Dass er anderen Menschen zur Begrüßung nicht die Hand gebe, schränke ihn beruflich in keiner Weise ein, was auch durch seine Vorgesetzten, Kollegen und Patienten bestätigt werden könne. Sein Kontakt mit Menschen sei nicht weniger freundlich oder gar respektlos, weil er es bevorzuge, Menschen nicht die Hand zu reichen. Im Übrigen werde im medizinischen Umfeld darauf geachtet und überall mittels Plakaten und Schulungen darauf hingewiesen, auf das Händeschütteln zu verzichten. Seine Beförderung zum Oberarzt verdeutliche, dass er sowohl seinen fachlichen Aufgaben als auch seinem zwischenmenschlichen Umgang vorbildlich nachkomme. Lediglich aus Respekt gegenüber seiner Ehefrau und um diese nicht mehr zu kränken, habe er beschlossen, weder Frauen noch Männern die Hand zu schütteln. Diese Entscheidung habe er etwa zwei Monate vor dem Einbürgerungstermin getroffen.
Er beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 07.01.2019 - 11 K 2731/18 - zu ändern und den Bescheid des Landratsamtes Ludwigsburg vom 21.09.2016 sowie den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 24.01.2018 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihn in den deutschen Staatsverband einzubürgern.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil und weist unter anderem darauf hin, dass das Vorleben des Klägers mit der Mitgliedschaft in der Islamischen Gemeinschaft xxxxxxxx und den jahrelangen Besuchen dort, seine Weigerung, der Sachbearbeiterin des Landratsamts als Angehörige eines anderen Geschlechts die Hand zu reichen, und sein Antwortverhalten in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht darauf schließen ließen, er trage die Grundwerte der deutschen Verfassung, insbesondere die Menschenwürde sowie die Gleichheit von Mann und Frau, nicht mit. Der Verweis auf die Eifersucht seiner Ehefrau sei eine Schutzbehauptung. Vielmehr ergebe sich aus seinen Antworten in der Sitzung, dass die Verweigerung des Handschlags auf einem von seiner Ehefrau angeführten religiösen Gebot ("und nährt die Unzucht nicht") beruhe, welches er teile. Der Kläger unterscheide im Alltag zwischen Mann und Frau und differenziere nach dem Geschlecht, ob er der anderen Person die Hand gebe. Ein formales Bekenntnis zum Gleichheitsgrundsatz als Wert der freiheitlichen demokratischen Grundordnung entspreche tatsächlich nicht seiner inneren Haltung. Im Übrigen fehle es an einem Einordnen in die deutschen Lebensverhältnisse. In der bundesrepublikanischen Gesellschaft gehöre der Handschlag - auch zwischen den Geschlechtern - zur Begrüßung oder zur Gratulation zur deutschen Kultur. Den Handschlag mit dem religiösen Gebot "und nährt die Unzucht nicht" zu verweigern, sei wohl nicht nur in Deutschland, sondern europaweit befremdlich. Zudem zeige das Antwortverhalten des Klägers beim Verwaltungsgericht Anhaltspunkte dafür, dass er die Regelungen der Scharia nicht ablehne und auch sonst eine Haltung zeige, die nicht mit den elementaren Grundsätzen des gesellschaftlich-kulturellen Gemeinschaftslebens in Einklang zu bringen sei.
Der Kläger ist in der Berufungsverhandlung angehört worden. Hinsichtlich seiner Angaben wird auf die Niederschrift verwiesen.
Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung Beweis erhoben durch die Vernehmung der beim Landratsamt Ludwigsburg für das Einbürgerungsverfahren des Klägers zuständigen Sachbearbeiterin (xxxx xxxx), der Ehefrau des Klägers (xxxx xxxxx) und einer Oberärztin der Abteilung des Krankenhauses, in dem der Kläger derzeit beschäftigt ist (xxxx xxx xxxxxxxxxxxxxx) als Zeuginnen sowie durch eine gutachterliche Äußerung einer Islamwissenschaftlerin des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg (xxxx xxx xxxxxxxxxx). Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
Der Senat hat außerdem Beweis erhoben durch das Zeugnis des ärztlichen Leiters der Abteilung der Klinik, in der der Kläger vom 01.09.2014 bis 31.08.2017 beschäftigt war (xxxx xxx xxxxxxx), dessen Aussage im Einverständnis mit den Verfahrensbeteiligten unter dem 27.07.2020 schriftlich erfolgt ist. Dem Senat liegt ferner die dienstliche Erklärung vom 07.07.2020 der für das Einbürgerungsverfahren beim Landratsamt Lörrach zuständigen Sachbearbeiterin (xxxx xxxxxx) vor. Die Einzelheiten ergeben sich aus den jeweiligen schriftlichen Erklärungen.
Wegen des weiteren Vortrags und Sachverhalts wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze und der Akten verwiesen. Dem Senat liegen die den Kläger betreffende Einbürgerungsakte und Ausländerakte, die Widerspruchsakte des Regierungspräsidiums Stuttgart und die Akte des Verwaltungsgerichts Stuttgart vor.

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers bleibt ohne Erfolg.
A) Die Berufung ist nach der für den Verwaltungsgerichtshof bindenden Zulassung durch das Verwaltungsgericht (§ 124 a Abs. 1 Sätze 1 und 2 VwGO) statthaft und auch sonst zulässig. Sie ist form- und fristgerecht begründet worden (§ 124 a Abs. 3 Sätze 2 und 3 VwGO) und entspricht auch inhaltlich den gesetzlichen Anforderungen des § 124 a Abs. 3 Satz 4 VwGO. Die Berufungsbegründung enthält einen bestimmten Antrag und es wird aus der Begründung mit Schriftsatz vom 26.04.2019 hinreichend erkennbar, inwieweit und warum das angegriffene Urteil nach Ansicht des Klägers tatsächlich und rechtlich unrichtig ist (vgl. zu den entsprechenden Anforderungen BVerwG, Beschluss vom 09.07.2019 - 9 B 29.18 -, juris Rn. 3; Seibert in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 a Rn. 107; Happ in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 a Rn. 27).
Die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung erstreckt sich auf das Einbürgerungsbegehren des Klägers nach den Anspruchsgrundlagen § 10 StAG sowie § 8 und § 9 StAG. Dies gilt ungeachtet dessen, dass das Verwaltungsgericht die Entscheidung über die Zulassung der Berufung allein mit der Erwägung begründet hat, es bedürfe der Klärung durch den Verwaltungsgerichtshof, ob das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes auch für die Einbürgerung nach § 9 StAG vorliegen müsse.
Das Begehren eines Ausländers auf Einbürgerung ist regelmäßig nicht auf die Einbürgerung nach einer bestimmten Rechtsgrundlage, sondern auf die Rechtsfolge "Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit" gerichtet. Ermessenseinbürgerung bzw. Solleinbürgerung sowie Anspruchseinbürgerung bilden unterschiedliche Rechtsgrundlagen für die einheitliche Rechtsfolge "Einbürgerung". Die Einbürgerungsbehörden bzw. die Gerichte haben bei Nichtvorliegen von Anspruchsvoraussetzungen nach § 10 StAG regelmäßig auch die Voraussetzungen der §§ 8, 9 StAG zu prüfen (BVerwG, Urteil vom 20.03.2012 - 5 C 1.11 -, juris Rn. 13; Berlit, jurisPR-BVerwG 18/2018 Anm. 2). Mithin handelt es sich bei der Einbürgerung grundsätzlich um einen einheitlichen Streitgegenstand, der nach verschiedenen Anspruchsgrundlagen zu prüfen ist. Zwar wird eine Ausnahme für die Fälle angenommen, in denen ein Einbürgerungsbewerber seinen Antrag eindeutig auf eine bestimmte Anspruchsgrundlage begrenzt (BVerwG, Urteile vom 20.03.2012 - 5 C 1.11 -, juris Rn. 13, und vom 20.04.2004 - 1 C 16.03 -, juris Rn. 19) oder in denen das Landesrecht unterschiedliche behördliche Zuständigkeiten für die Anspruchseinbürgerung einerseits, die Ermessenseinbürgerungstatbestände andererseits normiert und daher die Passivlegitimation für eine bestimmte Einbürgerungsanspruchsgrundlage nicht gegeben ist (Bayerischer VGH, Urteil vom 17.02.2005 - 5 BV 04.1225 -, juris Rn. 23; Berlit in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 2 Rn. 163). Dies ist hier aber nicht der Fall.
B) Die Berufung ist unbegründet. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (I) keinen Anspruch darauf, dass er unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Landratsamts Ludwigsburg vom 21.09.2016 und des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 24.01.2018 in den deutschen Staatsverband eingebürgert wird; ein Anspruch auf erneute Bescheidung seines Antrags besteht ebenfalls nicht.
Der Kläger kann nicht nach § 10 StAG seine Einbürgerung beanspruchen (II). Ausgehend von den allgemeinen rechtlichen Anforderungen an die Gewährleistung der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse (1) erfüllt der Kläger diese Einbürgerungsvoraussetzung nicht (2). Das Händeschütteln ist aufgrund seiner gesellschaftlichen und rechtlichen Bedeutung Teil der deutschen Lebensverhältnisse (2 a). Ein Einbürgerungsbewerber, der - wie der Kläger - infolge einer fundamentalistischen Kultur- und Wertevorstellung das Händeschütteln mit jeglicher Frau deshalb ablehnt, weil sie ein anderes Geschlecht hat und damit per se als eine dem Mann drohende Gefahr sexueller Versuchung bzw. unmoralischen Handelns gilt, gewährleistet nicht seine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse (2 b). Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Kläger - unter Aufrechterhaltung dieser Einstellung - auch Männern nicht mehr die Hand gibt (2 c). Die fehlende Gewährleistung der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse kann nicht durch eine "Übererfüllung" anderer für die Einbürgerung geltender Integrationsanforderungen kompensiert werden (2 d). Im vorliegenden Fall bedarf es daher keiner Entscheidung mehr, ob der Einbürgerung des Klägers auch andere Einbürgerungsvoraussetzungen (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StAG, § 11 Abs. 1 Nr. 1 StAG) entgegenstehen würden.
Das Einbürgerungsbegehren lässt sich mangels Gewährleistung der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse auch weder auf § 8 StAG noch auf § 9 StAG stützen (III).
I) Maßgebend für die Beurteilung des Einbürgerungsbegehrens des Klägers ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats (vgl. BVerwG, Urteile vom 01.06.2017 - 1 C 16.16 -, juris Rn. 9, und vom 05.06.2014 - 10 C 2.14 -, juris Rn. 10; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.12.2018 - 12 S 996/18 -, juris Rn. 19; Marx in: GK-StAR, § 8 Rn. 521 <Stand: 10/2009>). Dies gilt sowohl für die Anspruchseinbürgerung nach § 10 StAG als auch für die Ermessenseinbürgerung nach § 8 StAG sowie für die Solleinbürgerung von Ehegatten deutscher Staatsangehöriger nach § 9 StAG als eine Zwischenstufe zwischen § 10 StAG und § 8 StAG.
Wird mit der Verpflichtungsklage der Erlass eines Verwaltungsakts begehrt, darf die Behörde zu dessen Erlass nur verpflichtet werden, wenn sie dazu nach der geltenden Rechtslage verpflichtet bzw. befugt ist; ändern sich die maßgeblichen Rechtsvorschriften, ist die neue Rechtslage vorbehaltlich abweichender Übergangsregelungen auch dann zu berücksichtigen, wenn sie dem Kläger nachteilig ist (BVerwG, Urteil vom 20.10.2005 - 5 C 8.05 -, juris Rn. 10; Hailbronner/Hecker in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau, Staatsangehörigkeitsrecht, 6. Aufl. 2017, § 8 Rn. 53; Sodan in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 42 Rn. 126). Vorliegend ist daher das Staatsangehörigkeitsgesetz in der Fassung von Art. 4 der Elften Zuständigkeitsanpassungsverordnung vom 19.06.2020 (BGBl. I S. 1328) anzuwenden - mit der Folge, dass das Einbürgerungsbegehren nach § 10, § 9 und § 8 StAG in der Fassung des Dritten Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 04.08.2019 (BGBl. I S. 1124) zu prüfen ist.
Das Dritte Gesetz zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes ist nach dessen Art. 4 am 09.08.2019 in Kraft getreten. Eine Übergangsregelung etwa dergestalt, dass noch nicht bestandskräftig abgeschlossene Einbürgerungsverfahren auf der Grundlage der bisherigen Fassungen der §§ 8 bis 10 StAG abzuschließen sind, sieht das Gesetz nicht vor. Die Übergangsregelung des § 40 c StAG, die durch Art. 5 Nr. 23 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (BGBl. I S. 197) eingeführt worden ist, gilt nur für die dort speziell geregelte Fallkonstellation (näher Hailbronner/Maaßen in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau, Staatsangehörigkeitsrecht, 6. Aufl. 2017, § 40 c Rn. 1) und ist nicht verallgemeinerungsfähig.
Soweit damit der streitgegenständliche Einbürgerungsantrag vom 11.10.2012 nach Ablehnung mit Bescheid vom 21.09.2016 an den erst während des Berufungsverfahrens zum 09.08.2019 in Kraft getretenen Änderungen der §§ 8 ff. StAG zu messen ist, insbesondere an der neu in § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG aufgenommenen Einbürgerungsvoraussetzung der Gewährleistung der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse, begegnet dies mit Blick auf die Rückwirkung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. zur Frage der Zulässigkeit rückwirkender Gesetze und der Differenzierung zwischen echter und unechter Rückwirkung etwa BVerfG, Beschlüsse vom 08.12.2006 - 2 BvR 1339/06 -, juris Rn. 22 ff., und vom 23.03.1971 - 2 BvL 2/66 -, juris Rn. 71 ff.; Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl., 2020, Art. 20 Rn. 96 ff.).
Dem Gesetzgeber kommt im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit, dem mangels verfassungsgesetzlich gewährleistetem Einbürgerungsanspruch auch eine Einbürgerung zuzuordnen ist, grundsätzlich ein weiter Gestaltungsspielraum zu (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.05.2019 - 1 B 29.19 -, juris Rn. 10). In diesem Zusammenhang ist es dem Gesetzgeber insbesondere auch möglich, auf eine Rechtsprechung durch eine Korrektur des Gesetzes zu reagieren. So liegt es hier. Das Bundesverwaltungsgericht ist nicht der Auffassung gefolgt, dass die Anerkennung der grundlegenden Prinzipien der durch die Verfassung vorgegebenen Rechts- und Werteordnung und die Ausrichtung der individuellen Lebensführung hieran Teil des nach § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG abzugebenden Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung sind (BVerwG, Urteil vom 29.05.2019 - 1 C 15.17 -, juris; Berlit, jurisPR-BVerwG 18/2018 Anm. 2). Indem der Gesetzgeber nunmehr in § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG die weitere Einbürgerungsvoraussetzung der Gewährleistung der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse aufgenommen hat, hat er eine - quasi nachträglich eingetretene - Lücke geschlossen (vgl. nachfolgend II 1), weil er dies als eine wesentliche Integrationsvoraussetzung ansieht, ohne deren Erfüllung ein Ausländer die deutsche Staatsangehörigkeit nicht erhalten soll. Gründe des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit verwehren ihm nicht, solches auch mit Wirkung für laufende Verfahren vorzusehen. Entsprechendes gilt für die Änderungen in § 8 und § 9 StAG.
II) Dem Kläger steht kein Anspruch auf Einbürgerung nach § 10 StAG zu.
Nach § 10 StAG ist ein Ausländer, der seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat und handlungsfähig nach § 37 Abs. 1 Satz 1 oder gesetzlich vertreten ist, auf Antrag einzubürgern, wenn seine Identität und Staatsangehörigkeit geklärt sind und er die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 7 StAG aufgezählten Voraussetzungen erfüllt und seine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse gewährleistet, insbesondere er nicht gleichzeitig mit mehreren Ehegatten verheiratet ist; außerdem darf kein Ausschlussgrund nach § 11 StAG vorliegen. Der Kläger, dessen Identität und Staatsangehörigkeit geklärt sind, und der strafrechtrechtlich unbescholten ist (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG), erfüllt nach seinem Werdegang im Bundesgebiet unstreitig auch die weiteren Voraussetzungen nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2, 3, 6 und 7 StAG. Soweit der Kläger entgegen § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG seine libanesische Staatsangehörig nicht aufgibt oder verliert, findet dies seine Grundlage in § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StAG i. V. m. Ziffer 12.1.2.2. der Verwaltungsvorschrift des Ministeriums für Integration zum Staatsangehörigkeitsgesetz (VwV StAG) vom 08.07.2013 - Az. 2-1010.1/1 - (Stand: 23.11.2015), weshalb Mehrstaatigkeit ausnahmsweise hinzunehmen ist. Allerdings gewährleistet der Kläger nicht seine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse.
1) Die in § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG mit Wirkung zum 09.08.2019 eingefügte Einbürgerungsvoraussetzung, dass der Einbürgerungsbewerber seine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse gewährleistet, ist Folge des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 29.05.2018 (- 1 C 15.17 -, juris), nach dem eine vom Einbürgerungsbewerber rechtswirksam im Ausland geschlossene Mehrehe einem wirksamen Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des § 10 Abs. 1 S. 1 StAG nicht entgegensteht (BVerwG, a.a.O., Rn. 60 ff.), sie zwar eine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse i. S. d. § 9 Abs. 1 StAG (a.F.) ausschließt (BVerwG, a.a.O., Rn. 18 ff.), nicht aber die Anspruchseinbürgerung nach § 10 StAG (a.F.) hindert. Die jetzige Regelung hat ihren Ursprung in einem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen (Deutscher Bundestag - Ausschuss für Inneres und Heimat - Ausschussdrucksache 19(4) 292, S. 2 f.) im Zuge der Gesetzesberatungen zum Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes (BT-Drs. 19/9736 vom 29.04.2019) und ist in den parlamentarischen Beratungen kontrovers diskutiert worden (vgl. insb. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 19/107 vom 27.06.2019, S. 13212 (D) - 13223 (A) sowie zuvor Deutscher Bundestag, Ausschuss für Inneres und Heimat, Protokoll-Nr. 19/61 mit Anlagen der Stellungnahmen der Sachverständigen 19(4) 315 A - 19(4) 315 G).
a) Der Senat hat keinen Zweifel an der hinreichenden Bestimmtheit dieser Einbürgerungsvoraussetzung (ebenso Weber in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 10 StAG Rn. 54 <Stand 01.07.2020>). Er sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass mit dieser Neuregelung eine Einbürgerung unter einen Kulturvorbehalt gestellt wird, der notorisch unbestimmt und fluide und erkennbar für politische Vereinnahmungen und Instrumentalisierungen anfällig sei (so Tabbara, Schriftliche Stellungnahme zu dem Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes, S.1 - 5, Deutscher Bundestag - Ausschuss für Inneres und Heimat - Ausschussdrucksache 19(4) 315 C; siehe zur Befürchtung des Verlusts von Rechtssicherheit durch dieses Erfordernis auch Münch, Deutscher Anwaltsverein, Sachverständigenstellungnahme, S. 3, a.a.O., Ausschussdrucksache 19(4) 315 B). Insbesondere liegt kein willkürlicher "Leitkultur-Paragraph" vor (vgl. den dies annehmenden Aufruf gegen "Leitkultur-Paragraphen" https://neuedeutsche.org/de/artikel/groko-will-staatsangehoerigkeitsrecht-im-eiltempo-aushoehlen-aufruf-gegen-leitkultur-paragraphen/). Wie auch immer geartete Vorstellungen zu einer deutschen Leitkultur, wie etwa der im Jahre 2017 von dem damaligen Bundesinnenminister de Maizière genannte Zehn-Punkte-Katalog einer deutschen Leitkultur, an die sich alle Einwanderer anzupassen hätten (https://www.focus.de/politik/deutschland/zehn-punkte-katalog-thomas-de-maiziere-will-debatte-zur-leitkultur-anstossen_id_7054792.html sowie den Gastbeitrag "Wir sind nicht Burka" in Bild am Sonntag, 30.04.2017 https://www.bild.de/news/aktuelles/news/wir-sind-nicht-burka-de-maizieres-thesen-51560496.bild.html; vgl. hierzu auch Krings, Zuwanderung und Leitkultur, ZAR 2019, 315, 321, der die Überlegungen von de Maizière befürwortet), werden nicht über das Erfordernis der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse zu einer - diffusen - Einbürgerungsvoraussetzung gemacht (vgl. im Übrigen dazu, dass eine abendländisch-christliche Weltanschauung als bestimmende Leitkultur mit den Grundrechten und der nach dem Grundgesetz gebotenen Säkularität und Neutralität nicht vereinbar ist, Emmerich-Fritsche, Verfassungsrechtliche Fragen nationaler Identität und Homogenität sowie einer Leitkultur, Der Staat 58 <2019>, 575 ff., insb. 618 f.>). Dies erschließt sich aus den folgenden Erwägungen:
b) Die "Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff (vgl. BVerwG, Urteile vom 08.03.1988 - 1 C 55.86 -, juris Rn. 12, und vom 29.05.2018 - 1 C 15.17 -, juris Rn. 18 - jew. zu § 9 StAG a.F.), der der vollen gerichtlichen Prüfung unterliegt. Der Wortlaut verlangt zudem, dass die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse durch den Einbürgerungsbewerber gewährleistet ist.
Dieses Erfordernis ist keine grundlegende Neuerung im Recht. Es war bereits in § 9 Abs. 1 Nr. 2 StAG in der bis 08.08.2019 geltenden Fassung Tatbestandsvoraussetzung - und dies letztlich seit dem Jahre 1969 in Gestalt von Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 08.09.1969 (BGBl I, 1581). Auch das Aufenthaltsgesetz kennt - allerdings mit unterschiedlichen Spezifizierungen - das Erfordernis der Einordnung bzw. Integration in die deutschen Lebensverhältnisse als Voraussetzung für eine Titelerteilung (siehe § 18 c Abs. 3 AufenthG, § 25 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG, § 25 b Abs. 1 Satz 1 AufenthG, § 32 Abs. 2 AufenthG, § 37 Abs. 2 a AufenthG, § 104 a Abs. 2 AufenthG, § 104 b Nr. 4 AufenthG). Der Inhalt der "Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse" in § 10 Abs. 1 StAG kann zudem ausgehend von der Entstehungsgeschichte der Norm bestimmt werden (vgl. Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags am 24.06.2019, S. 17 - 20, Deutscher Bundestag - Ausschuss für Inneres und Heimat - Ausschussdrucksache 19(4) 315 D; Thym, Bürger zweiter Klasse im Einwanderungsland, Die Verwaltung 52 (2019), 407, 425 - 427; Wittmann, Schriftliche Stellungnahme zu dem Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes, S. 31 ff., Deutscher Bundestag - Ausschuss für Inneres und Heimat - Ausschussdrucksache 19(4) 315 G).
Die Begründung zur Beschlussempfehlung der jetzigen Fassung des § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG lautet wie folgt (BT-Drs. 19/11083 vom 25.06.2019, S. 10 f.; ebenso auch Ausschuss für Inneres und Heimat, Ausschussdrucksache 19(4)292, S. 2 f):
"....Mit der "Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse" als Einbürgerungsvoraussetzung, wie dies in der bisherigen Fassung des § 9 Absatz 1 Nummer 2 für die Einbürgerung von Ehegatten und Lebenspartnern Deutscher bereits gesetzlich vorgegeben ist, soll sichergestellt werden, dass die Einbürgerungsbewerber nicht nur formal über Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland verfügen (vergleiche § 10 Absatz 1 Satz 1 Nummer 7 und Absatz 5), sondern sie die elementaren Grundsätze der hier geltenden gesellschaftlichen und rechtlichen Ordnung auch hinreichend akzeptieren. Der über die Einbürgerung bewirkte Zugang zum Staatsvolk bedingt eine Identifikation mit dem bestehenden Gemeinwesen und den grundlegenden Prinzipien seiner Werteordnung, ohne die ein gesellschaftliches Zusammenleben in diesem Gemeinwesen nicht möglich ist.
Anders als bei § 9 Absatz 1 Nummer 2 in der bisherigen Fassung, wo aufgrund der geringeren Voraufenthaltszeit die Einordnung noch nicht abgeschlossen sein und die Gewährleistung daher auf Basis einer Prognose bewertet werden muss, ist eine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse bei der Anspruchseinbürgerung grundsätzlich anzunehmen, wenn die integrativen Einbürgerungsvoraussetzungen (rechtmäßige Mindestaufenthaltsdauer, Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes, Lebensunterhaltssicherung, Straffreiheit, ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache und Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland) erfüllt sind. Sofern jedoch konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Einbürgerungsbewerber es ungeachtet dessen an der vorauszusetzenden Bereitschaft zur Beachtung von Gesetz und Recht oder einer tätigen Einordnung in die elementaren Grundsätze des gesellschaftlich-kulturellen Gemeinschaftslebens, die als unverzichtbare außerrechtliche Voraussetzungen eines gedeihlichen Zusammenlebens zu werten sind, fehlen lässt (vergleiche BVerwG, Urteil vom 29. Mai 2018 - 1 C 15.17 - bei juris Rn. 20), ist eine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse nicht gewährleistet.
Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Einbürgerungsbewerber mit einem weiteren oder mehreren Ehegatten verheiratet ist. Das Zusammenspiel von tiefgreifender gesellschaftlich-kultureller Prägung durch den Grundsatz der Einehe und dessen hochrangiger verfassungs- und strafrechtlicher Verankerung macht diesen zu einem Teil der deutschen Lebensverhältnisse, in die sich ein Einbürgerungsbewerber einzuordnen hat. Es gebietet dessen Beachtung durch einen Einbürgerungsbewerber und hindert eine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse auch dann, wenn die Doppelehe im Ausland wirksam geschlossen worden ist und auch nicht gegen deutsches Strafrecht verstößt (BVerwG, a. a. O., bei juris Rn. 24).
Das BVerwG hat in seinem Urteil vom 29. Mai 2018 deshalb entschieden, dass eine rechtswirksam im Ausland eingegangene Mehrehe zwar eine privilegierte Einbürgerung von Ehegatten Deutscher nach § 9 StAG mangels Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse ausschließt, dies aber einem Einbürgerungsanspruch nach § 10 nicht entgegensteht. Das BVerwG ist nicht der Argumentation gefolgt, dass das nach § 10 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 abzugebende Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung, durch das die innere Hinwendung zur Bundesrepublik Deutschland dokumentiert wird, nicht nur auf die Abwehr von Verfassungsfeinden beschränkt ist, sondern die Anerkennung der grundlegenden Prinzipien der durch die Verfassung vorgegebenen Rechts- und Werteordnung, also auch das in Artikel 6 Absatz 1 GG verbürgte Institut der Ehe als Einehe umfasst. Ebenso nicht gefolgt ist das Gericht dem systematischen Argument, dass die in § 9 tatbestandlich vorgegebene Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse erst recht für die Anspruchseinbürgerung nach § 10 gelten müsse, weil aufgrund der weitergehenden Voraussetzungen (längere Voraufenthaltszeiten, höhere Integrationsvoraussetzungen) eine entsprechende Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse antizipiert wird, ohne dass dies noch einmal ausdrücklich geregelt werden musste.
Das BVerwG hat aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es dem Gesetzgeber freistehe, die Anspruchseinbürgerung bei bestehender Mehrehe auszuschließen, indem er etwa nach dem Vorbild des § 9 Absatz 1 Nummer 2 in der bisherigen Fassung auch für die Anspruchseinbürgerung vom Ausländer eine "Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse" verlangt. Die vorgesehene Regelung, die inhaltlich aus der bisherigen Fassung des § 9 Absatz 1 übernommen wird, wird vor diesem Hintergrund als zwingende Einbürgerungsvoraussetzung und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen in die weiteren Einbürgerungsvorschriften übernommen. Dies entspricht auch der Forderung der IMK (Beschluss zu TOP 4 der IMK vom 6. bis 8. Juni 2018), die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse, insbesondere die Beachtung des Verbots der Viel- und Mehrehe, als Einbürgerungsvoraussetzung ausdrücklich in das StAG aufzunehmen, weil sie notwendiger und unverzichtbarer Bestandteil für die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit ist."
Davon ausgehend fordert die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse jenseits der stets vorauszusetzenden Bereitschaft zur Beachtung von Gesetz und Recht auch eine tätige Einordnung in die elementaren Grundsätze des gesellschaftlich-kulturellen Gemeinschaftslebens, die als unverzichtbare außerrechtliche Voraussetzungen eines gedeihlichen Zusammenlebens zu werten sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2018 - 1 C 15.17 -, juris Rn. 20). Die Verselbständigung als Einbürgerungsvoraussetzung in § 10 StAG geht indes über die Verwendung des Begriffs in § 9 Abs. 1 Nr. 2 StAG a.F. hinaus. Denn in § 10 Abs. 1 StAG a.F. waren bereits die wesentlichen Voraussetzungen, welche diese Einordnung kennzeichnen und gewährleisten, zu bislang als hinreichend angesehenen eigenständigen Einbürgerungsvoraussetzungen verselbständigt. Überdies war auch mit Blick auf die Gewährleistung der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse im Anwendungsbereich des § 9 StAG a.F. für die Wahrung von Verhältnismäßigkeit und Einzelfallgerechtigkeit der Einbürgerungsbehörde eine Ermessenentscheidung eröffnet (siehe auch Berlit in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 2 Rn. 158 b).
Als einen Anwendungsfall nicht gewährleisteter Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse nennt das Gesetz die Mehrehe. Die Einehe ihrerseits ist aufgrund des Zusammenspiels von tiefgreifender gesellschaftlich-kultureller Prägung und dessen hochrangiger verfassungs- und strafrechtlicher Verankerung (vgl. Art. 6 GG, § 172 StGB) Teil der deutschen Lebensverhältnisse, in die der Ausländer sich auch dann nicht einordnet, wenn eine Doppelehe im Ausland wirksam geschlossen worden ist und nicht gegen das deutsche Strafrecht verstößt (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2018 - 1 C 15.17 -, juris Rn. 24; Berlit, jurisPR-BVerwG 18/2018 Anm. 2). Aus der Verwendung des Wortes "insbesondere" im Gesetzestext wird deutlich, dass die Gewährleistung der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse bewusst nicht auf die Beachtung des Verbots der Mehrehe beschränkt worden ist, auch wenn im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens solches erwogen worden war (vgl. Berlit in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 2 Rn. 158 c Fn. 375 unter Verweis auf BR-Drs. 154/19 vom 17.05.2019 mit dem Vorschlag des Bundesrats, in § 10 StAG eine Nr. 8 mit dem Inhalt anzufügen "nicht mit mehr als einer Person verheiratet ist"). Die im Wortlaut aufgenommene "Mehrehe" hat aber im Sinne eines Regelbeispiels eine klarstellende Funktion (Weber in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 10 StAG Rn. 53 <Stand 01.07.2020>).
Aus dem Beispiel der Einehe lässt sich schließen, dass nur solche gesellschaftlichen Grundsätze und sozialen Regeln in Deutschland, die auch im Recht eine klare und hochrangige Verankerung gefunden haben, Teil des Erfordernisses der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse sind. Eine hinreichende rechtliche Verankerung setzt aber nicht voraus, dass die Nichtbefolgung einer die deutsche Gesellschaft prägenden Lebenspraxis zugleich strafbewehrt sein muss. Dies folgt insbesondere aus der selbstständigen Bedeutung der Einbürgerungsvoraussetzung der strafrechtlichen Unbescholtenheit (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG i. V. m. § 12 a StAG). Es gehört etwa zur grundlegenden Werteordnung, die die gesellschaftlichen Verhältnisse prägt, dass die verfassungsrechtlich fundierte Gleichberechtigung der Geschlechter (Art. 3 Abs. 3 GG) anerkannt und gelebt wird. Ausgehend hiervon steht beispielsweise ein Verhaftetsein eines Einbürgerungsbewerbers in patriarchalischen Familienstrukturen, der Mädchen oder Frauen ein Recht auf Eigenständigkeit abspricht, einer Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse entgegen (vgl. zu diesem Beispiel Wittmann, Schriftliche Stellungnahme zu dem Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes, S. 34, Deutscher Bundestag - Ausschuss für Inneres und Heimat - Ausschussdrucksache 19(4) 315 G), was im Übrigen sogar aus dem Gedanken des Ausweisungsinteresses gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG abgeleitet werden kann.
2) Das Händeschütteln ist aufgrund seiner gesellschaftlichen und rechtlichen Bedeutung Teil der deutschen Lebensverhältnisse. Ein Einbürgerungsbewerber, der - wie der Kläger - infolge einer fundamentalistischen Kultur- und Wertevorstellung das Händeschütteln mit jeglicher Frau deshalb ablehnt, weil sie ein anderes Geschlecht hat und damit per se als eine dem Mann drohende Gefahr sexueller Versuchung bzw. unmoralischen Handelns gilt, gewährleistet nicht seine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse.
a) In Deutschland sind Handschlag bzw. das Händeschütteln gängige nonverbale Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale, die unabhängig von sozialem Status, Geschlecht oder anderen personellen Merkmalen der beteiligten Personen erfolgen und auf eine jahrhundertelange Praxis zurückgehen. Entsprechendes gilt in anderen westlichen Staaten, wie etwa in der Schweiz (Kühler, Religionsfreiheit als Herausforderung: die "Handschlag-Affäre", in: Hänni/Heselhaus/Loretan, Religionsfreiheit im säkulären Staat, 2019, S. 55, 60) oder Frankreich (vgl. die Entscheidung des Conseil d'État, 2ème - 7ème chambres réunies, 11/04/2018, No 412462- ECLI:FR:CECHR:2018:412462.20180411). Die Historie des Handschlags reicht - etwa als Geste des Friedens - Jahrtausende weit zurück; auch die Römer kannten ein manum dare (Strochlic, Geschichte des Handschlags: Warum fassen wir so oft Fremde an?, 16.03.2020, www.nationalgeographic.de; Erler in: Erler/Kaufmann, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. I, 1971, Stichwort "Handschlag", Sp. 1974). Aufgrund der langen geschichtlichen Tradition des Handschlags erachtet der Senat es für ausgeschlossen, dass die derzeitige Corona-Pandemie, die mit einer Vermeidung des Handschlags einhergeht, auf Dauer zu einem Ende des Händeschüttelns führt. Auch in der Vergangenheit hat der Handschlag die Zeiten überdauert, die von weltweiten Infektionen geprägt waren.
Allerdings sind - worauf der Kläger zutreffend hingewiesen hat - als Ausdruck einer pluralistischen Gesellschaft in Deutschland daneben andere Praktiken zur Begrüßung oder Verabschiedung anzutreffen. Diese können mit Körperkontakt einhergehen, wie etwa Küsse oder eine Art Abklatschen ("High Five"), diesen gegenüber der anderen Person aber auch vermeiden. Letzteres ist beispielsweise bei der Verbeugung oder der Geste, die Hand auf das Herz zu legen oder beide Handflächen in Höhe des Herzens zusammen zu berühren, der Fall. Soweit der Händedruck ein Ausdruck des Mitgefühls - z.B. im Sinne von Kondolenz - ist, sind alternative Formen für den entsprechenden Gefühlsausdruck ebenfalls anzutreffen.
Bei besonderen privaten, öffentlichen oder gar hoheitlichen Anlässen, die durch Förmlichkeiten geprägt werden, ist es aber gerade der Handschlag, der in diesem Kontext regelmäßig praktiziert wird. Hier sind beispielsweise zu nennen die Gratulation anlässlich eines Jubiläums, die Beglückwünschung bei besonderen Leistungen (beruflichen oder schulischen Abschlüssen, Beförderungen) oder die Übertragung eines öffentlichen Amts - ggfs. begleitend mit der Aushändigung der jeweiligen Urkunde. Die Aushändigung der Einbürgerungsurkunde geschieht häufig im Rahmen einer Einbürgerungsfeier (vgl. § 16 StAG i. V. m. Ziffer 16 der Verwaltungsvorschrift des Ministeriums für Integration zum Staatsangehörigkeitsgesetz (VwV StAG) vom 08.07.2013 - Az. 2-1010.1/1 - (Stand: 23.11.2015), bei der - wie sich auch aus den Angaben der als Zeugin vernommenen Mitarbeiterin der Einbürgerungsbehörde ergibt - üblicherweise dem Einzubürgernden mit Handschlag gratuliert wird.
Das Händeschütteln hat zudem Eingang in das Rechtsleben gefunden. Es dient bis heute als Bekräftigung von Gelübden und Verträgen aller Art (Schempf in: Cordes/Lück/Werkmüller/Bertelsmeier-Kierst, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. II, 2010, Stichwort "Handschlag", Sp. 748 f.). Man kennt den Vertragsschluss durch Handschlag: Das, was bisher besprochen wurde, bindet noch nicht; erst der Handschlag als symbolhafte Handlung verdeutlicht, dass der Vertrag nun geschlossen werden soll (Staudinger/Hertel, BGB, 2017, § 125 Rn. 42). Vereinbarungen, sogar "Milliarden-Geschäfte", werden per Handschlag besiegelt (EuG, Urteil vom 12.06.2014 - T-286/09 -, juris Rn. 521). Darüber hinaus gibt es gesetzliche Bestimmungen, die explizit einen Handschlag vorsehen:
§ 1789 BGB regelt, dass der Vormund von dem Familiengericht durch Verpflichtung zu treuer und gewissenhafter Führung der Vormundschaft bestellt wird; die Verpflichtung soll mittels Handschlags an Eides statt erfolgen. Die Verpflichtung mittels Handschlag entspricht dem Ernst und der Wichtigkeit der Aufgaben des Vormunds; sie macht ihm diese bewusst und ist auch geeignet, seine Stellung nach außen zu stärken (Staudinger/Veit, BGB, 2020, § 1789 Rn. 13). Diese Regelung - und damit auch die Verpflichtung mittels Handschlags an Eides statt - gilt entsprechend für die Bestellung des Umgangspflegers (§ 1915 Abs. 1 Satz 1 i.V.m § 1789 BGB) sowie die Bestellung des Nachlasspflegers (§ 1915 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 1789 BGB).
Des Weiteren existieren öffentlich-rechtliche Regelungen, nach denen ein Amtsinhaber durch Handschlag auf eine gewissenhafte Pflichterfüllung verpflichtet wird (vgl. etwa § 7 Abs. 3 Satz 3 BNotO <Verpflichtung des Notarassessors>; § 55 Abs. 1 LRiStAG BW; § 6 Abs. 1 RiWG <Verpflichtung der Mitglieder des Richterwahlausschusses>). Eine Verpflichtung durch Handschlag zur ordnungsgemäßen Erfüllung ihrer Aufgaben sehen gesetzliche Regelungen auch für (private) Personen vor, die eine besondere Funktion bekleiden (vgl. § 64 Abs. 4 Satz 3 BewG für die Mitglieder des Bewertungsbeirats). Weitere Beispiele sind in unterschiedlichen landesrechtlichen Vorschriften zu finden, wie etwa die Verpflichtung von ehrenamtlichen Feuerwehrangehörigen (§ 13 Abs. 3 Satz 2 Brand- und Katastrophenschutzgesetz Thüringen; § 12 Abs. 3 Brand- und Katastrophenschutzgesetz Rheinland-Pfalz), die Verpflichtung von Wild- und Jagdschadenschätzern (§ 6 Abs. 1 Verordnung über Verfahren in Wild- und Jagdschadenssachen Schleswig-Holstein), die Verpflichtung von Bürgermeister und Beigeordneten (§ 46 Abs. 1 Hessische Gemeindeordnung) oder von Landrat und Kreisbeigeordneten (§ 40 Abs. 1 Hessische Landkreisordnung), die Verpflichtung von Ratsmitgliedern (§ 30 Abs. 2 Gemeindeordnung Rheinland-Pfalz), die Verpflichtung ehrenamtlicher Bewährungshelfer (§ 11 Abs. 1 Satz 2 JugBewHelfG Berlin) oder die Verpflichtung von Beisitzern der Rechtsausschüsse (§ 14 i. V. m. § 7 ff. AGVwGO Rheinland-Pfalz). Eine Verpflichtung von Mitgliedern des Landtags durch Handschlag ist unter den dort genannten Voraussetzungen in § 2 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Landtags für Nordrhein-Westfalen geregelt.
b) Wie sich aus den vorstehenden Erwägungen ergibt, hat der Handschlag im gesellschaftlich-kulturellen und rechtlichen Leben eine das Miteinander prägende, tiefgehende Verwurzelung. Für diese ist auch typisch, dass der Handschlag unabhängig davon erfolgt, welche Geschlechter sich gegenüberstehen. Verweigert der Einbürgerungsbewerber das Händeschütteln aus geschlechtsspezifischen - und damit mit Art. 3 Abs. 2 und 3 GG nicht in Einklang zu bringenden - Gründen, ist keine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse gegeben (so wohl auch Berlit in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 2 Rn. 158 c). Dies gilt insbesondere dann, wenn - wie hier - der zwischengeschlechtliche Handschlag durch den Einbürgerungsbewerber infolge eines fundamentalistischen Kultur- und Werteverständnisses mit jeglicher Frau deshalb abgelehnt wird, weil sie ein anderes Geschlecht hat und damit per se als eine dem Mann drohende Gefahr sexueller Versuchung bzw. unmoralischen Handelns gilt.
aa) Der Kläger ist im Libanon geboren und aufgewachsen, mithin in einem Land, in dem es unter Muslimen und Musliminnen in der Regel nicht praktiziert wird, dem jeweils anderen Geschlecht die Hand zu reichen. Man betrachtet das dort als kulturell oder religiös nicht üblich, ohne dass die Gründe hierfür hinterfragt werden. Gebräuchliche Grußformen zwischen den Geschlechtern sind alternative Grußweisen, wie etwa das Nicken, die leichte Verbeugung oder die rechte Hand auf die Brust zu legen. Diese Einlassung des Klägers hat die in der mündlichen Verhandlung anwesende Islamwissenschaftlerin bestätigt.
Der Senat hegt keinen Zweifel daran, dass die Angabe des Klägers zutrifft, er habe sich nach seiner Einreise in das Bundesgebiet im Jahre 2002 an die hier praktizierte Gepflogenheit des Handschlags angepasst und unabhängig vom Geschlecht eine dargebotene Hand geschüttelt. Aus der Ausländer- und Einbürgerungsakte ergeben sich keine Hinweise darauf, der Kläger hätte bis zum verweigerten Handschlag bei der Begrüßung durch die Sachbearbeiterin am 09.12.2015 ein Händeschütteln abgelehnt. Die für den ursprünglich beim Landratsamt Lörrach gestellten Einbürgerungsantrag zuständige Sachbearbeiterin konnte sich nach ihrer dienstlichen Erklärung vom 07.07.2020 nicht daran erinnern, dass während ihrer Zuständigkeit für das Einbürgerungsverfahren in den Jahren 2012 und 2013 irgendwelche Auffälligkeiten vorgefallen sind. Sie ist sich aber sicher, sie hätte solche - so es sie denn gegeben hätte - in der Akte vermerkt. Die in der mündlichen Verhandlung als Zeugin vernommene Sachbearbeiterin des Landratsamts Ludwigsburg äußerte sich für die Zeit ihrer Zuständigkeit, soweit diese vor dem 09.12.2015 lag, entsprechend. Dem Zeugnis des ärztlichen Leiters der Abteilung der Klinik, in der der Kläger vom 01.09.2014 bis 31.08.2017 beschäftigt war, lässt sich entnehmen, dass das Händeschütteln durch den Kläger vor einem in der zweiten Hälfte seiner dreijährigen Tätigkeit zwischen ihm und dem Kläger erfolgten Gespräch kein Thema gewesen ist. Dies lässt ebenfalls den Schluss zu, dass der Kläger jedenfalls bis weit in das Jahr 2015 hinein den Handschlag praktiziert hat - und zwar unabhängig von dem Geschlecht der anderen Person oder der jeweiligen Situation.
Die Einlassung des Klägers, er habe in Deutschland erstmals die Übung des zwischengeschlechtlichen Handschlags kennengelernt und diese sodann jahrelang angenommen, hat auch die in der mündlichen Verhandlung anwesende Sachverständige mit überzeugenden Erwägungen für authentisch erachtet. Sie hat hierbei unter anderem darauf verwiesen, dass dies der Praxis sehr vieler Muslime entspricht, die hier im Bundesgebiet leben, und die den Handschlag zwischen Männern und Frauen, weil Usus, akzeptieren und ausüben - zumal selbst in den muslimisch geprägten Ländern des Nahen Ostens und damit auch im Heimatland des Klägers in situativen Kontexten der zwischengeschlechtliche Handschlag durchaus praktiziert wird. Als ein situativer Kontext gilt z.B. die "politische Bühne", weshalb der Sachverständigen zufolge auch der Kronprinz von Saudi-Arabien - in diesem Land ist der Wahhabismus quasi Staatsreligion - der deutschen Bundeskanzlerin die Hand gereicht hat.
bb) Nach den Angaben des Klägers in der Berufungsverhandlung hat seine Ehefrau von ihm verlangt, anderen Frauen nicht mehr die Hand zu geben; ohne die Forderung seiner Ehefrau wäre er bei seiner bisherigen Praxis geblieben. Dass die Verweigerung des Handschlags auf das entsprechende Verlangen seiner Ehefrau zurückzuführen ist, ist Gegenstand des - wiederholten und kontinuierlichen - Vortrags des Klägers und seiner Ehefrau seit dem Vorfall vom 09.12.2015. Wie sich aus dem Zeugnis der beiden Ärzte aus dem früheren und aktuellen beruflichen Umfeld des Klägers ergibt, entspricht dies auch dem, was der Kläger im Kollegenkreis bzw. am Arbeitsplatz mitgeteilt hat - nämlich seine Frau wünsche solches nicht.
Der Senat glaubt dem übereinstimmenden Vorbringen des Klägers und seiner Frau, dass die Initiative zum Verzicht auf den zwischengeschlechtlichen Handschlag von der Ehefrau ausgegangen ist. Der Senat hält aber den Vortrag für unzutreffend, der Kläger habe sein Verhalten hinsichtlich des Händeschüttelns allein deshalb geändert, weil er seine eifersüchtige Ehefrau habe zufrieden stellen wollen. Zwar hat die - in der Berufungsverhandlung sehr bestimmend wirkende - Ehefrau des Klägers unter anderem vorgebracht, sie habe es nicht gemocht zu sehen, wie ihr Mann eine Kollegin begrüße, und dass er jetzt Frauen keine Hand mehr schüttele und sich niemandem nähere, gebe ihr Sicherheit. Im Einklang hiermit hat der Kläger geltend gemacht, allein aus dem Grund, eine harmonische Ehe führen zu wollen, habe er aufgehört, Frauen die Hand zu geben. Der Senat ist indessen davon überzeugt, dass dies nicht der wahre Grund ist. Vielmehr hat sich die Ehefrau des Klägers den Ideen des Salafismus zugewandt. Sie hat die Beachtung der entsprechenden salafistisch geprägten Kultur- bzw. Wertevorstellung initiiert, nach der außerhalb der engen Familie (wie Vater, Mutter, Geschwister, Großeltern) Männer und Frauen einander nicht die Hand reichen. Diese Forderung hat der Kläger in Kenntnis ihres Ursprungs und unter Identifikation mit ihrer Zielsetzung im Wege einer eigenen, freiwilligen Entscheidung übernommen und sie auch nach außen hin sich zu eigen gemacht.
(1) Beim Salafismus handelt es sich um eine global ausgerichtete fundamentalistische Bewegung. Salafisten sind sunnitische Muslime, die sich an der islamischen Frühzeit orientieren und den Anspruch erheben, den Islam von vermeintlich fremden Einflüssen zu reinigen. Hierbei blenden sie die Tatsache aus, dass dessen kulturell vielfältige Erscheinungsformen historisch gewachsen sind. Sie verfolgen unter anderem das Ziel, Staat und Rechtsordnung im Sinne der "reinen Lehre", die als gottgewollte Ordnung angesehen und propagiert wird, umzugestalten. Salafismus tritt in unterschiedlichen Arten auf. Während beispielsweise dschihadistische Salafisten ein sofortiges gewaltsames Vorgehen zur Etablierung einer islamischen gesellschaftlichen Ordnung befürworten, nutzen politische Salafisten die demokratischen, pluralistischen Strukturen, um ihre islamistische Ideologie z.B. durch intensive Propagandatätigkeit, die als Missionierung (Da'wa) bezeichnet wird, zu verbreiten und die Gesellschaft in einem langfristigen Prozess nach ihren Vorstellungen, die eine vollständige Umsetzung der Scharia in Religion, Gesellschaft und Staat beinhaltet, neu zu gestalten; diese Umgestaltung sieht keine Gleichstellung der Geschlechter im Sinne des Verständnisses des Grundgesetzes vor (vgl. die Ausführungen der Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung; im Übrigen siehe auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.01.2016 - 19 A 1214/11 -, juris Rn. 39 ff.; Steinberg, Der rechtliche Umgang mit dem Salafismus in Deutschland, NVwZ 2016, 1745 ff. - dort <S. 1746, 1752> u.a. dazu, dass die Verweigerung des Handschlags zwischen den Geschlechtern und z.B. das Tragen einer Jilbab als zum Profil des Salafismus gehörend betrachtet wird).
(2) Die 31 Jahre alte und im Bundesgebiet geborene Ehefrau des Klägers ist eine - nach eigenen Angaben von Geburt an - deutsche Staatsangehörige. Ihrer Einlassung zufolge wuchs sie bei ihren aus Syrien stammenden muslimischen Eltern auf, die sie als nicht religiös bezeichnet. Sie entschied sich als Jugendliche, ein Kopftuch zu tragen, obwohl ihre Eltern dagegen waren, und stellte diese insoweit vor vollendete Tatsachen; sie legte in der Folgezeit das Kopftuch nicht mehr ab. In der Verhandlung vor dem Senat ist sie in einem weiten, umhüllenden Gewand erschienen, das lediglich Gesicht und Hände frei ließ. Aus ihrer Zeugenaussage ergibt sich, dass sie sich als Jugendliche Informationsbroschüren zum Islam bei xxxxxxx xxxxx besorgte, der einen Informationsstand in Stuttgart unterhielt. In der Folgezeit intensivierte sie den Kontakt zu xxxxxxx xxxxx. Sie hat ihn bei ihrer Vernehmung als einen Bekannten aus Stuttgart bezeichnet, den sie sehr gut kenne und der Zeuge bei ihrer Trauung mit dem Kläger gewesen sei. Sie habe zudem erwartet, dass er xxxxx xxx zur Trauung mitbringe, stattdessen habe er einen Imam mitgebracht, der recht alt gewesen sei, mehr wisse sie nicht, insbesondere nicht, wie er geheißen habe. Nach ihren Angaben besuchte sie zudem seit 2007 lange Zeit die Moschee xxxxx xx xxxxx.
Wie die Sachverständige erläutert hat, handelt es sich bei dieser - mittlerweile geschlossenen - Moschee eindeutig um eine solche, die dem Salafismus zuzuordnen ist. Außerdem ist ihren Ausführungen zufolge xxxxxxx xxxxx ein bekannter salafistischer Akteur. Entsprechendes gilt für xxxxx xxx (vgl. auch - ohne dass es hierauf ankommt - Landtag von Baden-Württemberg, Drs. 15/4679 vom 30.01.2014 - Salafismus in Baden-Württemberg, danach ist der in Baden-Württemberg ansässige xx xxxxx xxxxx xxxxx xxx ein bundesweit bekannter Propagandist und Teil eines politisch-salafistischen Netzwerkes).
Die Ehefrau des Klägers hat bis heute sehr enge Kontakte zu xxxxxxx xxxxx. Dass auch ihre Beziehung zu xxxxx xxx keinesfalls nur flüchtig ist, verdeutlicht etwa der Umstand, dass sie ihn während ihres Studiums der Zahnmedizin in xxxxxxxx "auf dem Zahnarztstuhl hatte". Wie eng ihre Verbindung zu beiden ist, zeigt aber vor allem die Tatsache, dass sie beiden bei ihrer zu Hause erfolgten Trauung nach islamischem Ritus eine herausragende Rolle (Imam und Trauzeuge) zugedacht hat. Auch wenn keine objektivierbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Ehefrau des Klägers Aktivitäten im Sinne des - politischen oder gar dschihadistischen - Salafismus durchführt, hält der Senat es für ausgeschlossen, dass sie ausgehend von ihrer langjährigen Verbindung zu xxxxxxx xxxxx und xxxxx xxx und des regelmäßigen Besuches einer salafistischen Moschee deren Ideen nicht aufgenommen und verinnerlicht hat. Es wäre zudem lebensfremd anzunehmen, dass Akteure des Salafismus, die so hervorgehoben sind, dass der Verfassungsschutz sich mit ihnen beschäftigt, zu einer Trauung kämen, bei der nicht mindestens einer der Partner ein Anhänger salafistischer Ideen ist. Außerdem verdeutlicht die Art und Weise der Argumentation der Zeugin zu Themen des Islam, wie insbesondere ihr Herausarbeiten der positiven Seiten der Scharia für die Frauen, ihre Darstellung der Zeitlosigkeit der Ethik und Werte der Scharia, wie sehr sie die Propaganda dieser Bewegung aufgenommen hat. In besonderem Maße gilt dies auch für die Frage des zwischengeschlechtlichen Handschlags.
Nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung gibt die Ehefrau des Klägers aufgrund eines schon Jahre zurückliegenden Entschlusses Männern nicht die Hand - und zwar gleichgültig, in welcher Funktion oder Situation sie ihr begegnen. Sie lehnt den Handschlag durch einen Mann zur Gratulation bei einer Prüfung ebenso ab wie den Handschlag mit einem Beamten, der ihr in amtlicher Funktion begegnet. Frauen schüttelt sie hingegen die Hand. Ihre Entscheidung, einem Mann nicht mehr die Hand zu geben, hat sie mit ihrem Ehemann zuvor nicht besprochen. Nach ihrem Verständnis darf ihr Ehemann den weiblichen Angehörigen seiner Familie die Hand geben, wie Mutter, Schwestern, Tante und Oma, aber den Cousinen schon nicht mehr. Sie lehnt jegliche Berührung ihres Mannes mit einer anderen Frau außerhalb der engen Familien ab, auch wenn diese ihm etwa - wie die Sachbearbeiterin beim Landratsamt Ludwigsburg am 09.12.2015 - in ihrer Tätigkeit als Vertreterin des Staates begegnet und beispielsweise zur Begrüßung die Hand geben will.
(3) Der Senat ist nicht überzeugt, dass die Forderung der Ehefrau, der Kläger habe das Händeschütteln mit dem anderen Geschlecht zu unterlassen, ihren Grund allein in der Paarbeziehung hätte. Im Jahre 2015 hat das Ehepaar nicht in einer Fernbeziehung gelebt. Auch ansonsten sind keine Umstände deutlich geworden, aus denen plausibel geschlossen werden könnte, das Ansinnen der Ehefrau habe innereheliche Ursachen. Insoweit ist die unmittelbar nach dem am 09.12.2015 verweigerten Handschlag von beiden Ehepartnern gegebene und später wiederholte Erklärung, die Ehefrau sei sehr eifersüchtig, ausgehend von einer zu diesem Zeitpunkt bereits ca. drei Jahre bestehenden Ehe und einer davor liegenden etwa zweijährigen Kennenlernphase, während derer der Kläger Frauen die Hand gegeben hat, nicht nachvollziehbar. Des Weiteren hat die Ehefrau des Klägers nach ihrem Vortrag kein Problem mit der - medizinisch notwendigen - Berührung von Patientinnen durch den Kläger, das Händeschütteln zwischen ihrem Mann und einer Patientin zur Begrüßung oder Verabschiedung lehne sie aber wegen ihrer starken Eifersucht ab. Vor dem Hintergrund, dass zum medizinischen Aufgabenbereich des Klägers etwa auch die Diagnostik von Erkrankungen der weiblichen Brust gehört, ist solches - und damit auch Eifersucht als Motiv - nicht plausibel. Dass Eifersucht nicht der tatsächliche Grund ist, sondern es um die Umsetzung salafistischer Vorstellungen geht, ergibt sich zudem aus Folgendem:
Die Ehefrau des Klägers hat sich nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat lange und intensiv mit dem Thema Handschlag beschäftigt. Sie hat mit Freudinnen darüber diskutiert, vor allem aber hat sie sich hierüber im Internet informiert und auf verschiedenen Portalen und Seiten eingehend recherchiert. Dies hat beispielsweise auch die Fragen umfasst, ob das Handgeben zwischen den Geschlechtern mit Handschuhen in Ordnung geht oder ob es Gesetze im Bundesgebiet gibt, die sich zum Handschlag verhalten. Auch Lektüre über den Islam besorgt sie sich im Internet. Fragen nach konkret von ihr benutzen Seiten im Internet bzw. anderen Publikationen hat sie ausweichend dahingehend beantwortet, Namen sagten ihr nichts, sie interessiere die Argumentation. Es ist aufgrund ihres Werdegangs fernliegend anzunehmen, die Ehefrau des Klägers wäre intellektuell nicht in der Lage, Namen der von ihr benutzten Internetquellen oder etwa Titel von Büchern aus der Erinnerung anzugeben. Mit ihren Antworten ist vielmehr bezweckt worden, die von ihr benutzten Internetseiten und andere Publikationen nicht zu offenbaren.
Dass die Ehefrau des Klägers - letztlich ausgehend von dem Informationsmaterial, das sie über xxxxxxx xxxxx im Rahmen von Da'wa erhalten hat - bis heute gegenüber einem islamistischen Gedankengut aufgeschlossen ist und auch auf die entsprechenden Seiten im Internet zurückgreift, verdeutlicht ihre Einlassung dahingehend, dass die Sure "und nährt die Unzucht nicht", über die sie sich im Internet informiert hat, der Auslöser für die Ablehnung des gleichgeschlechtlichen Handschlags gewesen ist. Wie die Sachverständige im Einzelnen nachvollziehbar erläutert hat, ist die Benennung dezidierter Gründe, warum ein zwischengeschlechtlicher Handschlag zu unterbleiben hat, für die islamistisch motivierte Ablehnung eines solchen typisch. Der Sachverständigen zufolge ist die von der Ehefrau des Klägers angeführte Sure (17, Vers 32) ein im islamistischen Kontext weit verbreitetes Argument, weshalb Mann und Frau sich nicht die Hand geben dürfen. Nach ihren Ausführungen warnen Islamisten davor, dass das Händeschütteln zur sog. Fitna führen kann, wobei Fitna als Zeiten des Glaubensabfalls, der Zwietracht verstanden wird. Den Frauen wird zugeschrieben, die Macht zu haben, solche Zeiten zu verursachen. Hierzu gehört auch das Händeschütteln eines Mannes mit einer Frau, weil solches zu Sünde und Perversion führen kann; der Handschlag wird als etwas sehr Sexualisiertes dargestellt - als Vorstufe zum Geschlechtsverkehr. Die Frau wird im Prinzip als Verführerin angesehen und der Mann als der, der unschuldig ist, und sich potentiell gegen die verführerische Macht der Frauen nicht wehren kann.
In der Berufungsverhandlung hat die Ehefrau des Klägers sich nunmehr darauf berufen, die Sure "und nährt die Unzucht nicht", habe sie nicht wirklich überzeugt, weil man den Handschlag doch nicht sexualisieren dürfe. Es sei für sie wichtig zu wissen, dass nur sie exklusiv ihren Mann berühre. Es gehe darum, dass es bei ihr ein Unwohlsein auslöse, wenn ihr Mann einer Frau die Hand gebe und ihre Wohlfühlzone sei von jedermann zu respektieren. Die Freiheit anderer Menschen höre an ihrer Freiheit auf. Der Senat hält dies allerdings für einen taktischen Vortrag, der unter dem Eindruck der erstinstanzlich zu Lasten des Klägers ergangenen Entscheidung erfolgt ist. Die Verweigerung des Handschlags ist schon ausweislich der E-Mail des Landratsamts Lörrach an das Ministerium für Integration vom 11.12.2015 von der Ehefrau des Klägers in einen religiösen Kontext eingebettet worden. Im Übrigen ändert dieses Vorbringen auch nichts daran, dass damit ein Berührungsverbot außerhalb der Ehe gerechtfertigt werden soll, das schon für den Handschlag gilt - und folglich die Sicht der sexuellen Dimension des Handschlags, die hier dem salafistischen Kontext entstammt, tatsächlich beibehalten bleibt. Für diese Einordnung spricht im Übrigen auch, dass die Ehefrau des Klägers ihrerseits Männern nicht die Hand reicht.
cc) Der Kläger hat im Laufe der zweiten Hälfte des Jahres 2015 das Händeschütteln mit einer anderen Frau nicht mehr praktiziert. In der Berufungsverhandlung hat er vorgetragen, er habe nur deshalb begonnen, einer Frau nicht mehr die Hand zu geben, weil seine Ehefrau immer beleidigt gewesen sei, wenn er einer Frau die Hand gereicht habe; seine Frau habe sich nicht respektiert gefühlt. Sie habe ihm erklärt, ihre Ehe sei heilig und es sei eine Bedingung für sie, dass er Frauen nicht mehr die Hand reiche. Aus seiner persönlichen Sicht gebiete die Sure "und nährt die Unzucht nicht" nicht den Verzicht auf den zwischengeschlechtlichen Handschlag. Soweit das Verwaltungsgericht in seinem Urteil etwas anderes geschrieben habe, sei dies ein Missverständnis gewesen. Er habe zur Erhaltung des Glücks in seiner Ehe nachgegeben und angefangen, Frauen in anderer Weise respektvoll zu grüßen, etwa durch Kopfnicken und Lächeln oder die rechte Hand auf die Brust zu legen.
Allerdings kann dem Kläger - allein schon ausgehend davon, wer als Imam und Zeuge bei der Trauung vorgesehen gewesen ist - die Hinwendung seiner Ehefrau zu salafistischem Gedankengut nicht verborgen geblieben sein. Es ist nicht plausibel, dass dem Kläger - entsprechend seinen Angaben in der Berufungsverhandlung - nicht bekannt sein will, wo sich seine Frau etwa in religiösen Fragen oder beim Thema Handschlag Rat holt. Der Beantwortung diesbezüglicher Fragen in der mündlichen Verhandlung, etwa dahingehend, ob seine Frau sich auf eine bestimmte Rechtsschule bezieht oder aus welchen Quellen sie sich informiert, ist der Kläger ausgewichen. Dass der Kläger nicht erkannt haben könnte, die Forderung seiner Ehefrau diene dazu, dem Geltungsanspruch der salafistischen Überzeugung zum Verhältnis von Mann und Frau zu einer gesellschaftlichen bzw. kulturellen Wirkung zu verhelfen, ist lebensfremd. Dies gilt vor allem auch deshalb, weil die Frage des Handschlags Gegenstand langer und intensiver Diskussionen zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau gewesen sein soll und der Kläger sich selbst als religiös bewandert bezeichnet. Darüber hinaus hat er auch darauf verwiesen, er würde - so er denn Rat im religiösen Bereich benötigen würde - zuerst seine Frau fragen. Im Übrigen ist der Kläger während seiner Zeit als Student jahrelang bei der Islamischen Gemeinschaft in xxxxxxxx verkehrt und hat dort nach eigenen Angaben etwa auch eine Rede von Ahmed El-Kalifa gehört, der Funktionär der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland ist, die ihrerseits als Zentrale der sunnitisch-extremistischen Muslimbrüderschaft gilt, und nach deren Vorstellungen eine Frau einem Mann nicht gleichberechtigt gegenüber steht (vgl. Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg, 2011, S. 60 ff., 65). Welche Intention die Verweigerung des zwischengeschlechtlichen Handschlags hat, muss dem Kläger auch vor diesem Hintergrund bekannt gewesen sein.
Nach dem persönlichen Eindruck, den der Senat von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, ist der Kläger auch kein willensschwaches Werkzeug in der Hand seiner Ehefrau. Gegen eine solche Einordnung spricht ferner, dass der Kläger eine berufliche Stellung erreicht und inne hat, die von ihm persönlich Willensstärke fordert. Außerdem hat er wiederholt angegeben, er habe einen freien Geist und entscheide, was er für richtig halte. Würde es der Kläger für richtig halten, Frauen in Deutschland nach wie vor die Hand zu geben, wäre zu erwarten, dass er seiner Ehefrau in dieser Frage nicht folgt -zumal er selbst darauf verwiesen hat, dass Muslimsein und einer Frau die Hand zu schütteln durchaus als religiös miteinander in Einklang stehend betrachtet werden können. Hinzukommt, dass der Kläger ausweislich des Tatbestands des verwaltungsgerichtlichen Urteils in der dortigen mündlichen Verhandlung auf Fragen des Gerichts zum Reichen der Hand Frauen gegenüber unter anderem vorgetragen hat, seine Ehefrau sei durch den Umstand, dass er Frauen den Handschlag nicht verweigert habe, verletzt gewesen. Sie habe ihm ein religiöses Gebot ("und nährt die Unzucht nicht") vorgehalten, wonach er dem anderen Geschlecht nicht die Hand reichen dürfe. Er habe sich deshalb entschlossen, niemandem mehr die Hand zu reichen. Außerdem ist im Tatbestand festgehalten, dass der Kläger auf Fragen der Vertreter des Beklagten angegeben hat, nachdem er Frauen die Hand gereicht habe, habe es eine Auseinandersetzung mit seiner Ehefrau gegeben; seine Ehefrau habe ihm einen religiösen Grund genannt; diesen religiösen Grund teile er mittlerweile. Hieraus ergibt sich eindeutig, dass sich der Kläger den fundamentalistischen Kontext des Unterlassens eines zwischengeschlechtlichen Handschlags zu eigen gemacht hat. Soweit der Kläger vorträgt, das Verwaltungsgericht habe ihn quasi "überfahren", er sei missverstanden worden und es sei nicht so, dass er wegen dieses religiösen Grundes Frauen die Hand nicht gibt, ist dies nicht plausibel. Der Kläger ist schon beim Verwaltungsgericht anwaltlich vertreten gewesen. Hätte die Notwendigkeit bestanden, seine Einlassung in der mündlichen Verhandlung richtig zu stellen, hätte sein damals anwesender Prozessbevollmächtigter ohne Weiteres dafür Sorge tragen können.
Dem Vortrag des Klägers in der Berufungsverhandlung, er habe in der Corona-Zeit den "Ellenbogencheck" einmal mit einem Mann praktiziert und das würde er auch mit einer Frau machen, kann nicht entnommen werden, dass er sich nunmehr von den Ideen zur Vermeidung eines zwischengeschlechtlichen Handschlags distanziert hätte. Aus seinen weiteren Angaben wird nämlich deutlich, dass seine Frau ihn noch nicht darauf angesprochen hat und dies erst mit ihr zu besprechen wäre.
dd) Lehnt ein Mann - wie hier der Kläger - den Handschlag mit einer jeden Frau deshalb ab, weil sie ein anderes Geschlecht hat und damit per se als eine dem Mann drohende Gefahr sexueller Versuchung bzw. unmoralischen Handelns gilt, stellt dies eine Herabwürdigung der Frau als Person dar, weil sie - in welcher Lebenssituation auch immer - allein auf ihre Sexualität reduziert wird. Dies gilt entsprechend auch im umgekehrten Fall, wenn eine Frau aus einem solchen Grund einem Mann nicht die Hand gibt.
(1) Die Reduzierung einer Person auf ihre Sexualität widerspricht der in hochrangigen Grundrechten (wie Art. 1, Art. 3 GG) zum Ausdruck kommenden Werteordnung der Bundesrepublik, die insbesondere die Achtung der/des Einzelnen als Person unabhängig von ihrem/seinem Geschlecht umfasst. Mit der Verweigerung des Handschlags als Ausdruck der Geschlechtertrennung wegen der Gefahr einer möglichen "Unzucht" auch gegenüber einer Amtsträgerin oder einem Amtsträger wird darüber hinaus negiert, dass der Zugang zu öffentlichen Ämtern Männern und Frauen verfassungsrechtlich gleichberechtigt offensteht (Art. 3, Art. 33, Art. 38 GG) und die Ausübung des Amtes unabhängig vom Geschlecht des Inhabers ist. Die Amtsträgerin/der Amtsträger wird in der Situation oder anlässlich der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben auf ihr/sein Geschlecht reduziert und damit letztlich auch die Akzeptanz der Entscheidungen infrage gestellt. So hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausgeführt, er würde keiner Beamtin, keiner Richterin die Hand schütteln - unabhängig davon, in welchem beruflichen Kontext ihm die Hand gereicht würde. Ferner hat er ausgeführt, er würde auch einer Lehrerin nicht die Hand geben, so er denn einmal Kinder hätte. Letzteres birgt die Gefahr in sich, dass die Autorität der Lehrerin und das Vertrauen der Allgemeinheit insbesondere in ihre Obhuts-, Erziehungs- und Vorbildfunktion leidet, insbesondere dann, wenn der Handschlag auch in Gegenwart anderer verweigert wird.
(2) Dass der Kläger nach eigenen Angaben eine Herabwürdigung mit der Verweigerung des Händeschüttelns nicht bezweckt und seinen Respekt vor Frauen und insbesondere auch Amtsträgerinnen auf andere Weise in Gesten und erklärenden Worten zum Ausdruck bringen will, ist ebenso wenig erheblich wie die Frage, ob sich Frauen, denen der Kläger die Hand nicht gereicht hat, tatsächlich herabgewürdigt oder diskriminiert gefühlt haben. Es genügt die Eignung des Verhaltens, die oben - unter (1) - genannten Wirkungen herbeizuführen. Der Kläger hat die Eignung seines Verhaltens hierfür erkannt. Dies lässt sich seinen Angaben in der Berufungsverhandlung entnehmen, wonach ihm nach der Situation anlässlich des verweigerten Handschlags im Zusammenhang mit der an sich an diesem Tag geplanten Aushändigung der Einbürgerungsurkunde dieses bewusst geworden sei. Darüber hinaus lebt der Kläger schon so lange im Bundesgebiet, dass ihm die Wirkungen eines verweigerten zwischengeschlechtlichen Handschlags auch unabhängig von dem Ereignis am 09.12.2015 bekannt gewesen sein muss.
(3) Im Übrigen ist die vorliegende Konstellation dadurch gekennzeichnet, dass die Verweigerung des zwischengeschlechtlichen Handschlags als ein Baustein im Rahmen der allgemeinen Taktik politischer Fundamentalisten begriffen werden kann, islamistische Vorstellungen zur Moral und zur Bedeutung der Geschlechter, zur Frage des Umgangs von Mann und Frau, im Bundesgebiet kulturell gesellschaftsfähig zu machen. Die auf die allgemeinen Lebensverhältnisse ausstrahlenden Werte des Grundgesetzes erfordern es aber, dies auch dann nicht hinzunehmen, wenn der Kläger Frauen begegnet, die mit seiner Vorgehensweise einverstanden sind.
(4) Die Verneinung der Einbürgerungsvoraussetzung in der vorliegenden Konstellation stellt - selbst wenn man die Verweigerung des Handschlags gegenüber dem anderen Geschlecht als auch religiös motiviert ansieht - keinen Eingriff in das Recht des Einbürgerungsbewerbers dar, seinen Glauben entsprechend seinem religiösen Selbstverständnis auszuüben (vgl. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 9 EMRK). Vorenthalten wird nämlich nur die Einbürgerung als Begünstigung. Im Übrigen ist die Glaubensfreiheit auch nicht dazu bestimmt, die Grenzen, die die allgemeine Werteordnung des Grundgesetzes errichtet, zu überschreiten oder Ausländern einen sonst nicht bestehenden Anspruch auf Einbürgerung zu gewähren (BVerwG, Beschluss vom 02.12.2009 - 5 C 24.08 -, juris Rn. 19).
c) Soweit der Kläger vorträgt, er habe sich, weil er den Grundsatz der Gleichbehandlung von Mann und Frau voll mittrage, mittlerweile dazu entschlossen, niemandem mehr die Hand zu reichen, führt dies zu keiner anderen Würdigung. Die jedenfalls seit Anfang des Jahres 2018 bestehende Praxis des Klägers, niemandem mehr die Hand zu geben, erachtet der Senat als ein unter dem Eindruck des die Einbürgerung ablehnenden Bescheids vom 21.09.2016 entwickeltes taktisches Vorgehen. Im Übrigen wird seine innere Haltung, dass Frauen und Männer in ihrem gesellschaftlichen Umgang zur Vermeidung der Gefahr von Unzucht miteinander gerade nicht gleichgestellt sind, nicht dadurch beeinflusst, dass der Kläger auch Männern keine Hand schüttelt. Ferner ist in diesem Zusammenhang der Umstand irrelevant, dass der Kläger nach seinen Angaben vor allem in seinem Kollegenkreis auf Verständnis für seine Entscheidung stößt, Händeschütteln zu unterlassen. Dass in einer Klinik - schon vor Corona - ein Handschlag nicht stets praktiziert wird, beruht vor allem auf hygienischen Gegebenheiten, wie die als Zeugin vernommene Kollegin des Klägers im Einzelnen ausgeführt hat. Derartige Gründe sind für das Unterlassen des Handschlags durch den Kläger aber nicht ausschlaggebend.
Weiterhin gibt es kein Bekenntnis des Klägers dazu, dass er dann, wenn Gesetze einen Handschlag vorsehen, einen solchen praktiziert. Auch dieser Umstand schließt die Gewährleistung der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse aus. Auf die entsprechende Nachfrage in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Kläger lediglich erklärt, das müsse er erst mit seiner Frau besprechen. Seine Frau wiederum hat in ihrer Zeugenvernehmung angegeben, ihr sei kein Gesetz bekannt, das den Handschlag vorschreibe, sie habe sich lange mit dem Thema befasst. Ihr sei nicht bewusst, dass es Vorschriften gebe, die sich mit dem Handschlag beschäftigten; für sie gehe es immer nur darum, dass niemand das Recht habe, in ihre Wohlfühlzone einzugreifen, auch kein Richter, kein Beamter. Selbst nach der Erörterung von Beispielen, in denen das Gesetz einen Handschlag vorsieht, hat sich die Einlassung des Klägers (und im Übrigen auch die seiner Frau) nicht geändert. Danach lässt sich eine vorbehaltlose Bereitschaft seitens des Klägers, Gesetz und Recht zu beachten und die Hand zu reichen, wenn er in Situationen kommt, in denen ein aktuelles oder zukünftiges Gesetz solches von ihm fordert, nicht erkennen.
Der Senat sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass sich nach der seit etwa fünf Jahren bestehenden Praxis des verweigerten Handschlags die Einstellung und das Verhalten des Klägers in Zukunft ändern und er den zwischen- oder gleichgeschlechtlichen Handschlag wieder praktizieren würde, so denn die Verhaltensempfehlungen im Zusammenhang mit Corona solches zuließen.
d) Die Verweigerung des Handschlags kann nicht deshalb als einbürgerungsrechtlich irrelevant eingestuft werden, weil der Kläger einzelne Einbürgerungsvoraussetzungen des § 10 StAG, die - wie etwa das Spracherfordernis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 StAG - in klassischer Weise auf eine gelungene Integration hindeuten, deutlich übererfüllt. So beherrscht der Kläger die deutsche Sprache auf dem Niveau eines muttersprachlichen Akademikers und bezieht als Arzt, der als Oberarzt in einer Klinik und gleichzeitig noch in einem Medizinischen Versorgungszentrum arbeitet, hohe Einkünfte. Außerdem engagiert er sich seit Jahren in seinem Beruf als Arzt in Deutschland in einer herausragenden Weise, die gleichermaßen weiblichen und männlichen Kollegen, Mitarbeitern und Patienten fachlich und menschlich zu Gute kommt. Dies ergibt sich nicht nur aus den dem Senat vorliegenden Arbeitszeugnissen, sondern auch aus dem Zeugnis seiner in der Berufungsverhandlung vernommenen Kollegin. Die die Anspruchseinbürgerung regelnde Norm des § 10 StAG ist jedoch auch in ihrer jetzigen Fassung darauf ausgelegt, dass alle im Gesetz aufgeführten Voraussetzungen jeweils erfüllt werden müssen; eine Art Saldierung oder Ausnahmen lässt das Gesetz nicht zu.
III) Das Einbürgerungsbegehren des Klägers lässt sich auch weder auf § 8 StAG noch auf § 9 StAG stützen.
1) Nach § 8 Abs. 1 StAG kann ein Ausländer, der rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, auf seinen Antrag eingebürgert werden, wenn seine Identität und Staatsangehörigkeit geklärt sind und er handlungsfähig nach § 37 Abs. 1 Satz 1 oder gesetzlich vertreten ist (1.), weder wegen einer rechtswidrigen Tat zu einer Strafe verurteilt noch gegen ihn auf Grund seiner Schuldunfähigkeit eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet worden ist (2.), eine eigene Wohnung oder ein Unterkommen gefunden hat (3.),
sich und seine Angehörigen zu ernähren imstande ist (4.) und seine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse gewährleistet ist. Nach § 8 Abs. 2 StAG kann von den Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 2 und 4 aus Gründen des öffentlichen Interesses oder zur Vermeidung einer besonderen Härte abgesehen werden.
Im vorliegenden Fall fehlt es an der Gewährleistung der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse. Die obigen Ausführungen (II 1 und 2) zu dieser Einbürgerungsvoraussetzung bei § 10 StAG gelten hier gleichermaßen. Zwar hat der Gesetzgeber bei dieser ebenfalls mit Wirkung zum 09.08.2019 (BGBl. I S. 1124) neu in den Tatbestand eingefügten Voraussetzung im Unterschied zur entsprechenden Änderung in § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG das Beispiel der Mehrehe nicht in den Gesetzeswortlaut aufgenommen. Der Senat sieht jedoch - auch mit Blick auf die Systematik und Entstehungsgeschichte der Norm (vgl. hierzu BT-Drs. 19/11083 vom 25.06.2019) - keinen Anhalt dafür, diese Einbürgerungsvoraussetzung in den jeweiligen Regelungen unterschiedlich auszulegen (so wohl auch Weber in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 8 StAG Rn. 36 <Stand 01.07.2020>).
Da es hier an einer der in § 8 Abs. 1 StAG vorgesehen gesetzlichen Voraussetzung fehlt, und von der Gewährleistung der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse auch nicht ausnahmsweise nach der Härtefallklausel des § 8 Abs. 2 StAG abgesehen werden kann, scheidet eine Einbürgerung aus. Ein Ermessen ist schon nicht eröffnet. Weder auf Ermessensebene zu berücksichtigende Wohlwollensgebote noch anderslautende, gerichtlich nicht bindende Verwaltungsvorschriften können vor dem Hintergrund des Vorrangs des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) von den Mindestvoraussetzungen dispensieren (Weber in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 8 StAG Rn. 11 <Stand 01.07.2020>). Soweit im Falle einer rechtswidrigen Ablehnung vor einer Rechtsänderung angenommen wird, dass die Behörde eine Folgenbeseitigungslast treffen kann, die sie verpflichtet, im Rahmen einer ihr möglichen Ermessensentscheidung zu berücksichtigen, dass sie einen Anspruch auf rechtswidriges Verhalten vereitelt hat, und die ihr Ermessen "auf Null" reduzieren kann (BVerwG, Beschluss vom 19.08.1996 - 1 B 82.95 -, juris; Hailbronner/Hecker in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau, Staatsangehörigkeitsrecht, 6. Aufl. 2017, § 8 Rn. 53), würde auch dies dem Kläger nicht zu einer Einbürgerung verhelfen, da es an einem eröffneten Ermessen fehlt.
2) Nach § 9 Abs. 1 StAG sollen Ehegatten oder Lebenspartner Deutscher unter den Voraussetzungen des § 8 eingebürgert werden, wenn sie ihre bisherige Staatsangehörigkeit verlieren oder aufgeben oder ein Grund für die Hinnahme von Mehrstaatigkeit nach Maßgabe von § 12 vorliegt, es sei denn, dass sie nicht über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 und Abs. 4) und keinen Ausnahmegrund nach § 10 Abs. 6 erfüllen.
Mit Art. 1 Nr. 1 lit. d und Nr. 2 lit. c des Dritten Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 04.08.2019 (BGBl. I S. 1124) hat der Gesetzgeber mit Wirkung zum 09.08.2019 die gesetzliche Voraussetzung der Gewährleistung der Einordnung des Einbürgerungsbewerbers in die deutschen Lebensverhältnisse aus § 9 Abs. 1 Nr. 2 StAG a.F. nunmehr in § 8 Abs. 1 StAG überführt (Weber in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 9 StAG Rn. 5 <Stand 01.07.2020>). Für die Solleinbürgerung nach § 9 StAG müssen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 8 StAG und damit auch die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse vorliegen (Berlit in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 2 Rn. 176), woran es hier fehlt.
Selbst wenn man im Übrigen davon ausgehen würde, im Unterschied zur Anspruchseinbürgerung nach § 10 StAG wäre die Regelung der Solleinbürgerung des § 9 StAG in Ausnahmefällen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich offen für eine Auslegung dahingehend, dass eine fehlende Gewährleistung der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse durch eine "Übererfüllung" anderer Integrationsanforderungen kompensiert werden könnte (siehe oben II, 2 d) und dann jedenfalls eine Ermessensentscheidung eröffnet wäre, besteht mit Blick auf den salafistischen Ursprung der klägerischen Praxis des verweigerten Handschlags kein Anlass, hier solches anzunehmen.
Die Kostentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Zulassung der Revision beruht auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Beschluss:
Beschluss vom 20. August 2020
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird gemäß § 52 Abs. 1 GKG auf 10.000,-- EUR festgesetzt.
Der Beschluss ist unanfechtbar.